Räume I Beton I Formen

Norbert Prothmann

Räume

Räume hatten für den Menschen schon immer eine Ambivalenz. Sie bieten zum einen Schutz und Geborgenheit, sie können aber auch Ort der Gefahr und des Verderbens, der Verdammnis und des Todes sein. Dieses Wissen war schon Urmenschen zu eigen, die in Höhlen Schutz suchten, und anfingen, darin zu leben, gleichwohl aber auch in Konkurrenz zu tierischen Höhlenbewohnern traten. Räume können Orte der Geborgenheit sein, Sicherheit vor Tieren, Wetter, Naturereignissen und Feinden bieten, sie können repräsentieren und kultischen Zwecken dienen, sie können Verliese und Gefängnisse sein, Folterkammern oder Katakomben.
Mit der Sesshaftwerdung der Menschen begannen sie auch selbst Räume zu schaffen, und Raumkonzepte für unterschiedliche Zwecke zu entwickeln.
Im Katalog „We Grew Some Eyes“ verweist Elisabeth Kuon in ihrem Text zu Jochen Damian Fischers „Refugium I“ auf Peter Sloterdijks Auffassung, dass das „Bedürfnis, sich in einer räumlich begrenzten und dadurch deutlich wahrnehmbaren Umgebung oder Umhüllung zu befinden“ zur „menschliche Ursituation“ gehöre, „die, angefangen von der embryonalen Einbettung auf Wiederholung und Variierung in den späteren Situationen des Lebens drängt“. Sie führt andererseits auch die entwicklungspsychologisch erklärbare „kindliche Faszination für solche Geheimplätze“ an, die Fischer sich erhalten zu haben scheine.
Die antiken Hochkulturen hatten Raumkonzepte bereits ins Unendliche ausdifferenziert, und auch verborgene Räume geschaffen, in Tempeln, in Pyramiden, Palästen und Theatern, zur Wasserversorgung oder auch teilweise schon zur Entsorgung von Abfällen und Abwässern. Unter der Arena des Colosseums hatten die Römer Verliese, Tiergehege, Trainings- und Vorbereitungsräume angelegt, in denen die Tiere, Gladiatoren und Verurteilten auf ihre Beförderung in die Arena warteten. Die Geschichte des Bergbaus führt bis zurück in die Steinzeit.
Mittelalterliche Burgen und Städte verfügten über unterirdische Gänge, z.B. für Wasserversorgung, und als Notausgänge im Belagerungsfall. Die Nürnberger Felsenkeller zum Beispiel sind noch heute ein imposantes Beispiel solcher Bauaktivität.
Eine eigenständige Thematisierung von Räumen und räumlichen Situationen durch die Kunst blieb aber bis zur Romantik eher eine Randerscheinung. Ihre Konzeption und Gestaltung war die Sache von Architekten. Bildenden Künstlern dienten sie mehrheitlich als Kulisse zur Inszenierung ihrer zumeist menschlichen Motive, die die primäre Botschaft übermittelten.
Die Französische Revolution und im Nachgang die Romantik mit ihrer „Hinwendung zu phantastischen und traumhaften Inhalten, insbesondere zur Sagen- und Mythenwelt des Mittelalters oder zur barocken Mystik“ (Wikipedia) ebneten den Weg für eine Kunst, die sich einerseits sprachlich und inhaltlich für die Breite der Bevölkerung öffnete und die andererseits das Irrationale als wesentlichen Bestandteil des Lebens thematisierte.
In Geschichten wie „The Cask of Amontillado“ oder “The Pit and the Pendulum” spielte Edgar Allen Poe meisterhaft mit der Angst und den Angstphantasien seines Publikums und er erfand Räumlichkeiten, die in seinen Erzählungen eine Hauptrolle spielten, weil sie darin mitunter genau zu dem Zweck geschaffen worden waren, ein Opfer möglichst angst- und qualvoll umzubringen.
In Karl Mays Kolportage-Romanen wie “Die Liebe des Ulanen” oder “Deutsche Herzen – Deutsche Helden”, wimmelt es von phantasierten Räumlichkeiten, wie Geheimgängen, Geheimkammern und Verstecken, die ihrerseits prominenten Einfluss auf die Entwicklung seiner erzählten Handlungen haben.
Während die Literatur voranging die geheimen und die dunklen Orte zu elementaren Bestandteilen für ihre Erzählstränge machte, entdeckte die Malerei die Auswirkungen der Industrialisierung und die plastische Kunst den Menschen an sich, beides Charakteristika einer nachrevolutionären, bürgerlich geprägten Weltanschauung.
Die Industrialisierung veränderte das Verhältnis der Menschen zu unterirdischen Räumen grundlegend. In Metropolen wie London, Paris, Wien und Berlin wurden unterirdische Bahnsysteme für den Massentransport von Menschen geschaffen. Das Proletariat lebte mitunter direkt nebenan in der Kanalisation wie die Fettfischer und Strotter in Wien. Das Motiv nahm 1949 Carol Reed in seinem Film „Der 3. Mann“ auf spektakuläre Weise auf.
Als Reaktion auf die von der Industrialisierung befeuerte permanente Steigerung der Zerstörungskraft artilleristischer Waffensysteme spiegelte sich das Schaffen von unterirdisch weit verzweigten Gangsystemen auch im Festungsbau wider. Als in Europa Millionen junger Männer 1914 in den Krieg zogen, waren ihnen solche Unterwelten aus den großen Städten schon bekannt. Das schiere Grauen, in das sie in Festungsabschnitten wie Verdun im erbarmungslosen Kampf um jeden Meter Stollen und Keller hineingeraten würden, übertraf freilich jegliche Vorstellungskraft.
Hatten die Expressionisten noch vor allem die rasant wachsenden urbanen Umgebungen thematisiert, begannen die Dadaisten auch damit, Räume zu konzipieren. Die konsequenteste Schöpfung aus diesem Impuls war sicherlich Schwitters Merzbau.
Insbesondere die expressionistischen Filmemacher, Regisseure wie F.W. Murnau und Fritz Lang, zeigten in ihren Filmen phantasierte Räume und Räumlichkeiten in nie zuvor bildlich dargestellter Ästhetik. Gepaart mit dem Spiel aus Licht und Schatten transportierten sie Beklemmung, Verunsicherung, Ohnmachtsgefühle und Ängste wie Poe mit seinen textlichen Schilderungen 80 Jahre zuvor.
Dennoch blieben die eher technischen, konstruktiven Gestaltungselemente als Topos der bildenden Kunst weiterhin eine Ausnahme. Es waren schließlich die Surrealisten wie Dalí und Magritte, die Räume zentral in ihre Arbeit einbezogen, dabei freilich aber auch zugleich die Trennung von Innen und Aussen aufhoben, was die Rätselhaftigkeit ihrer gemalten Räume zumeist eher erhöht als reduziert. M.C. Escher schließlich konstruierte streng geometrische Räume als zweidimensionale Zeichnungen, die nicht in eine Dreidimensionalität überführbar sind; denn er führt die Perspektiven ad absurdum.
Während reale und phantasierte Räume nach dem 2. Weltkrieg als Thema in Film und Literatur einen festen Platz einnahmen und sich die Malerei dem Thema annäherte, war die plastische Kunst noch bis in die 1960er Jahre stark objektorientiert. Die Beziehung zwischen Objekt und Raumsituation um das Objekt wurde freilich wichtiger. Mit ihren radikalen Ansätzen begann die Fluxus-Bewegung die Veränderung von räumlichen Situationen in den Vordergrund zu stellen. Allan Kaprow, Günter Brus, Otto Mühl, Hermann Nitsch, Joseph Beuys, Albrecht/d., Wolf Vostell und andere brauchten für ihre Happenings räumliche Situationen, die nicht immer von vornherein gegeben waren.
Albrecht/d. und Wolf Vostell entwickelten 1968 das Fluxus-Konzept „between the front“ bei dem die Besucher barfuß durch einen Raum mit einer 30 cm hohen Sandschicht gehen sollten, in der Stacheldraht, Glasscherben und Metallscheiben vergraben waren. Das Konzept wurde später abgeändert, und die Besucher mussten durch einen Raum hindurch, in dem Stacheldraht gespannt war.
Für die 10. Biennale in Tokio 1970 schuf Albrecht/d. einen engen quaderförmigen Tunnel, der durch zwei 45-Grad-Winkel abgeknickt war, so dass man nicht hindurchschauen konnte. Er konnte nur leicht gebückt passiert werden, die Seitenwände enthielten zahlreiche kleine Löcher, die Licht ins Innere ließen. In München stellte Albrecht/d. 1971 das „Denkmal für die Rechte in Deutschland“ aus. Er konstruierte einen Raum, in den man nur hineinkrabbeln konnte. Im Innern konnte man stehen und blickte dann auf ca. 2,5 m hohe, überlebensgroße Fotos von KZ-Insassen, einem Galgen und toten KZ-Häftlingen. Diese Konstruktionen lösten sich von der räumlichen Situation des Ausstellungsortes. Sie waren autonome Räume, die überall hätten aufgebaut werden können, und aus sich heraus funktionierten. Es waren, wie der Merzbau, begehbare Plastiken. Christo, der Ende der 1960er Jahre ebenfalls auch im Fluxus-Umfeld arbeitete, perfektionierte einen gegensätzlichen Ansatz. Indem er Objekte und später auch Bauwerke verpackte, hob er ihre Räume letztlich auf. Die verpackten Objekte wurden zur monolitischen Erscheinung, die man sich massiv oder hohl vorstellen konnte. Für Christo war freilich die Wirkung dieses Äußeren auf seine Umgebung relevant.
Die Räume des Jochen Damian Fischer, teils begehbar, teils als Miniaturen, wie Modelle, nehmen diese Geschichte auf, sie sind Verstärker der Vorstellungskraft der Betrachtenden. Ihre architektonische Sachlichkeit und Klarheit erinnert an Zweckbauten, an Düker, Kanäle, Stollen, Bunker, Treppenhäuser. Die Geometrie seiner Arbeiten entfaltet ein expressionistisches Spiel mit Licht, Schatten und Formen. Doch ihre Treppen und Ausgänge führen ins Undefinierte, sie bleiben die Erklärung schuldig, ob der Raum eher Schutz gewährt oder für Verderben steht. Sie wirken wie Momentaufnahmen einer Welt, die noch dahingehend erkundet werden muss, ob Sie ein Teil des Auswegs oder des Verliesses ist.
Jochen Damian Fischer kommentiert dies nicht. In Stuttgart-Heslach wohnte er für einige Zeit in dem Gebäude, in dem früher die Polizeiwache untergebracht war. Die Arrestzelle im 1. UG hatte er mit Beton künstlerisch umgestaltet. Aus der Gefängniszelle wurde eine begehbare Skulptur.
Im gleichen Haus befand sich im 2. Untergeschoß noch der Luftschutzraum aus dem 2. Weltkrieg, der seiner Band als Proberaum diente.
In der Vernissage in der Villa Merkel, in der Jochen Damian Fischer 2020 sein “Refugium I“ präsentierte, war er nicht persönlich vor Ort, sondern per Live-Cam aus einer Höhle. Während die Besucher seine Arbeiten in der Villa Merkel anschauen konnten, führte er live eine Erkundung einer Höhle vor. Mit dem multimedialen Element verließ er die Grenzen der traditionellen plastischen Kunst und betonte eine weitere Komponente seiner künstlerischen Arbeit: Das Erforschen von Räumen in interdisziplinärer Weise, das Sich-Bewegen zwischen Archäologie, Höhlenforschung, Architektur, bildender Kunst und letztlich auch wieder der Psychologie, denn viele verborgene Räume sind schwer zugänglich, oft eng, feucht, schlecht durchlüftet und dadurch Respekt einflößend.
Das architektonische Auge Jochen Damian Fischers richtet sich bei der Dokumentation von vorgefundenen Räumen zunächst vor allem auf die Form, auf die Konstruktion, und nicht primär auf den Zweck. Seine eigenen Arbeiten spiegeln das wider. Sie greifen funktionale architektonische Elemente auf, ohne eine tatsächliche Funktionalität zu behaupten. Dabei entstehen durchaus auch bewusst Parallelen zur Geschichte, in der Baumeister und Architekten häufig für unterschiedlichste Zwecke gearbeitet haben. Beispielsweise waren für Paul Bonatz vor allem Zweckbauten interessant. Sein Name ist untrennbar mit dem Stuttgarter Hauptbahnhof verbunden, wie auch mit den Neckarschleusen zwischen Stuttgart und Heilbronn. Aber auch die Aufgabe, Luftschutzbunker in das Stadtbild zu integrieren fand er 1940 reizvoll. Er lieferte Entwürfe für Sandsteinverkleidungen der im Bau befindlichen Hochbunker. Den markanten Hochbunker am Pragsattel entwarf er komplett selbst.
So sind auch die von Jochen Damian Fischer entworfenen Räume stets mehrdeutig, verweisen auf den Jahrtausende lang gepflegten Umgang von Menschen mit Räumen, aber sie überlassen die Interpretation den Assoziationen seines Publikums. Es liegt an uns, sie funktional und nüchtern wahrzunehmen, den Schutzraum zu erkennen, die Passage, oder einen Ort des Schreckens und der Agonie.


Beton

Wer sich heute künstlerisch mit Beton beschäftigt, agiert in einer ca. 150-jährigen Geschichte baulicher Industrialisierung und gestaltungsmäßig angeeigneter gesellschaftspolitischer Reformideen, deren Versprechen freilich nie eingehalten wurden.
Obwohl Beton grundsätzlich bereits in der Antike entwickelt und eingesetzt wurde, gilt er als der Baustoff der Neuzeit, insbesondere des 20. Jahrhunderts. Es war das Jahrhundert, in dem Beton als Baustoff allgegenwärtig wurde. Angesichts der derzeitigen Diskussionen um den hohen Energieeinsatz bei der Produktion von Beton und seiner dadurch schlechten Ökobilanz könnte er in diesem Jahrhundert wieder weitgehend aus der Mode kommen, auch wenn es aktuell kaum danach aussieht.
Die moderne Geschichte des Betons beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts mit mehreren Patenten, die vom Portland-Cement über den Eisen- und Spannbeton bis zum Transportbeton, und damit zum endgültigen globalen Siegeszug des Betons nach dem 2. Weltkrieg führten.
Bis dahin hatten die Militärs und die Industrie die neuen Einsatzmöglichkeiten des antiken Baustoffs ausgiebig für ihre Zwecke ausgenutzt, Materialverbünde und Mischungen optimiert und auch die Industrialisierung und Typisierung weiter vorangetrieben. Zu den intensivsten Nutzern von Beton am der Front gehörte ab 1914 das deutsche Heer, das in großem Umfang Betonunterstände in seine Grabensysteme einbaute und etwa im Frontabschnitt Verdun ab 1916 mit dem Camp Maguerre eine Art Mustersiedlung für Betonbunker schuf, um u.a. auch deren Widerstandsfähigkeit gegen Artilleriebeschuss zu testen. Im Industriebau wurde die Flexibilität vor allem von Bauten mit Stahlbetonskeletten schnell erkannt und setzte sich entsprechend zügig durch.
In Mitteleuropa waren es vor allem das Neue Bauen und verwandte architektonisch-städtebauliche Konzeptansätze, die ab ca. 1910 Beton zusammen mit Ziegeln, Glas und Stahl als Grundmaterialien für serielles, industrielles Bauen auch im Wohnungsbau einsetzten. Die Innovationen sollten einerseits den seit Beginn der Industrialisierung beständig wachsenden Wohnungsbedarf in den Städten möglichst kurzfristig bedienen und andererseits eine höhere Qualität der entstehenden Wohnungen sicherstellen, und so die urbane Wohnsituation für eine zunehmende Zahl von Menschen verbessern.
In seinem „Entwurf zu einer Architekturgeschichte 1940-1980“ setzt sich Adolf Max Vogt mit Ernst Bloch auseinander, den er folgendermaßen zitiert: „Architektur insgesamt ist und bleibt ein Produktionsversuch menschlicher Heimat – vom gesetzten Wohnzweck bis zur Erscheinung einer schöneren Welt in Proportion und Ornament“ (Adolf Max Vogt, Ulrike Jehle-Schulte Strathaus, Bruno Reichlin: „Architektur 1940-1980“, Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt am Main, 1980, die Bloch-Zitate sind nach Vogt aus Bloch: „Das Prinzip Hoffnung“, Frankfurt/M. 1959). Vogt führt weiter aus, dass bei Bloch „Heimat“ der Gegenbegriff zu „Entfremdung“ sei. Seine Auseinandersetzung mit Bloch führt zu dessen Kritik an der Architektur der Moderne des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, weil ihrer gestalterischen Avantgarde keine entsprechende gesellschaftliche Veränderung zur Seite steht. So schreibt Bloch um 1940: „Seit über einer Generation steht darum dieses Stahlmöbel-, Betonkuben-, Flachdach-Wesen geschichtslos da, hochmodern und langweilig, scheinbar kühn und echt trivial, voll Hass gegen die Floskel angeblich jeden Ornaments und doch mehr im Schema festgerannt als je eine Stilkopie im schlimmen neunzehnten Jahrhundert.“ Dabei macht Bloch nicht primär die Architektur verantwortlich, denn: „ Wo ein Lebenszuschnitt so verworfen ist wie der spätbürgerliche, kann eine bloße Baureform nur erreichen, nicht mehr verhüllt-, sondern dezidiert-seelenlos zu sein.“
Sowohl Blochs Analysen aus den 1940er Jahren als auch Vogts Beschäftigung damit im Jahre 1980 wirken 2022 noch immer aktuell und es überrascht, dass sich diese Sätze nicht auf die Architektur der 2020er Jahre beziehen, sondern eine 100 Jahre zuvor eingeleitete Entwicklung kommentieren, und Blochs Ausführungen inzwischen 80 Jahre alt sind.
Die von Bloch beschriebene Problematik ist also ein ungelöster Konflikt dieses Beton-Jahrhunderts, der noch immer unverändert besteht. Während das Bauen effizienter und kostengünstiger wurde, änderte sich der „Lebenszuschnitt“ praktisch nicht. Der Ansatz zur vertikalen Stadt der Wohnmaschinen Le Corbusiers stellte diesen „Lebenszuschnitt“ nie wirklich in Frage, auch wenn sein Konzept als Prototyp des Plattenbaus und damit des vereinheitlichten Wohnungsbaus sowohl im „real existierenden Sozialismus“ als auch im westeuropäischen „sozialen Wohnungsbau“ gilt. Am Ende betonierten diese architektonischen Konstrukte den spätbürgerlichen Lebenszuschnitt buchstäblich ein, in normierte Wohneinheiten, die die durch die Industrialisierung erzeugte Entfremdung des Menschen nicht aufhoben, sondern zu Refugien wurden, in deren räumlich definierter Privatsphäre der Familie das Bürgerliche nach Kräften bewahrt, verteidigt und gepflegt wurde. In diesen Refugien wurde „Heimat“ nicht im Blochschen Sinne zum Gegenbegriff zu „Entfremdung“, sondern zum systemerhaltenden metaphysischen Sinn-Ersatz erhoben, der von der Entfremdung ablenken sollte.
Die Rationalität, die dem Neuen Bauen zugrunde gelegen hatte, und die in ihrer Kernauffassung Bauen für eine neue Gesellschaft gemeint hatte, führte nicht nur zum Widerspruch zwischen ursprünglicher architektonisch-stadtplanerischer Idee und Lebenszuschnitt, sondern zur Korrumpierung der ursprünglichen architektonisch-stadtplanerischen Idee, die auf eine Optimierung der Baukosten bei unveränderten Lebenszuschnitten reduziert wurde. Ihre auch gesellschaftspolitisch avantgardistisch gemeinte Ornamentlosigkeit führte zum Brutalismus, also der bewusst unbearbeitet gelassenen Betonoberfläche der Fassaden und tragenden Elemente, die der bürgerlichen Sehnsucht nach Ornament zuwider lief und damit den Konflikt zwischen Grundidee und Wirklichkeit dieser Bauten noch verstärkte.
Dass Jugendopposition, auch militanter Ausprägung, in diesem Umfeld aus äußerlicher Einheitlichkeit und innerlicher Spätbürgerlichkeit vor allem ab den 1960er Jahren gedieh, ist letztlich wenig überraschend. Die Architektur steht im Gegensatz zu dem den Kindern vorgelebten Lebenszuschnitt, der nach bürgerlicher Individualität strebt, die Entfremdung von Arbeit und Umwelt ignoriert und verdrängt. Die aus Wohnungen aufgeschachtelten Blocks transportieren in ihrer ästhetischen Botschaft das Scheitern dieser bürgerlichen Individualität ohne dass sich in diesem Spannungsfeld Aufwachsenden eine Lösung des Konflikts eröffnet.
So wurde Beton in den Städten vor allem ab den 1960er Jahren zum Synonym einer auf Entfremdung und systemerhaltenden Optimierung basierenden Welt, das sich in der Protest- und Jugendkultur fest einnistete. „Schade, dass Beton nicht brennt“ wurde ein beliebtes Graffito, wie auch der Songtitel „macht kaputt, was Euch kaputt macht“ von Ton, Steine, Scherben von 1970. Songtitel wie „Zurück zum Beton“ (S.Y.P.H., 1979) und Bandnamen wie Einstürzende Neubauten waren nur logische Weiterentwicklungen dieser oppositionellen Reibung. Ab Ende der 1970er Jahre begannen sowohl deutsche als auch angloamerikanische Protagonisten u.a. der aufkommenden Punk und New Wave-Kultur in ihren Texten mit den Assoziationen des Begriffes Untergrund/Underground zu spielen. Waren die weitläufigen Kanalisationssysteme der europäischen Metropolen wie in Wien oder London im 18. und 19. Jahrhundert noch weitgehend gemauert worden, stand der Beton in Verbindung mit Stahlblechen auch für den Bau der U-Bahnen in London, Paris, Berlin und anderen Metropolen. Die U-Bahn-Haltestellen dienten wiederum vor allem während des 2. Weltkriegs als Luftschutzräume und damit auch als Chiffre für eine erneute militärische Bedrohung während des Kalten Krieges. Andererseits hatte die großen Befestigungssysteme wie die Maginotlinie, oder der „Ostwall“ eigene unterirdische Versorgungsbahnen. Schließlich steht der Untergrund auch für den (verdeckten) Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse, Punk, Post-Punk und andere Untergrund-Kultur für den Gegenentwurf zum kulturellen Mainstream.
In „Maschinenland“ von Abwärts heisst es 1980:
„Linke Seite Supermarkt
Rechte Seite Abenteuerspielplatz
In der Mitte Autobahn“.
Diese drei Zeilen beschreiben das Dilemma einer Stadtplanung die u.a. auch auf Le Corbusier referenzierte, aber letztlich vor allem voneinander getrennte Büro- und Schlafstädte schuf, die mittels Stadtautobahnen oder U-Bahnen verbunden wurden. Die sozialpolitischen Grundgedanken des Neuen Bauens konnten sich in der Gesellschaft nie umfassend etablieren und wurden folglich als Utopie marginalisert, während die Entfremdung des Menschen zunehmend in Beton gegossen wurde statt sie aufzulösen.
Jochen Damian Fischer agiert in dieser Geschichte. Er zitiert bauliche Elemente wie Tôles de Métro (Stützbleche, so benannt nach ihrem Einsatz beim Bau der Métro. Sehr ähnliche Bleche kamen ab 1914 beim Bau von Unterständen für Soldaten und später auch für Zivilisten als innere Schalung zum Einsatz), Düker, Treppen, Unterführungen, Tunnel, Bunker usw. und er bedient sich ihrer zumeist brutalistischen Optik. Denn die Oberflächen der Zweckbauten sind üblicherweise nicht verkleidet, verputzt oder bemalt, es sei denn mit Schutz- oder Tarnanstrichen. Sowohl für „Höhle“ 2010, als auch für die limitierte Beton-Edition seines Buches „Subworks 2010-2021“ kombinierte er Beton mit schwarzem Offset-Lack. Im Fall von „Höhle“ als Graffiti aus drei Vierecken, die nach unten verlaufen, für „Subworks“ als akkurater Streifen der neben der sonst unbehandelten, brutalistischen Betonoberfläche steht.
Musikalisch steht Fischer dem Punk und New Wave nahe. Das dort gängige Spiel mit Untergrund-Assoziationen ist ihm bestens vertraut. Als Schlagzeuger kennt er die Atmosphäre unterirdischer Proberäume aus eigener Erfahrung. In der Arbeit mit Flächen schafft er immer wieder auch Perspektiven, die auf den Kubismus referenzieren, und setzt so auch eine weitere direkte Verbindung zum Werk Le Corbusiers, der sich zunächst dem Kubismus verschrieben hatte, bevor er sich ganz der Architektur und Stadtplanung widmete.
Jochen Damian Fischers Arbeit mit Beton steht in der Tradition der Moderne. Bar jeder Ornamente, ganz der geometrischen Form untergeordnet, die Oberflächen häufig brutalistisch den Charakter des Werkstoffes offenbarend und haptisch offerierend, funktionale Architektur zitierend. Jedoch verweigern sich die Arbeiten der Unterordnung unter eine Funktion, die ihre Optik vordergründig nahelegt. So grenzen sie sich gegen die zitierte Architektur oder zweckgebundene bauwerkliche Funktionalität ab und eröffnen den betonierten Raum für Assoziationen.


Formen

Zu den geometrischen Grundformen, die wir allgemein mit Vollkommenheit verbinden, gehören insbesondere Quadrat und Kreis.
Mit den vier Ecken des Quadrats lassen sich die Himmelsrichtungen symbolisieren, die identischen Seitenlängen schaffen gleichwertige Relationen, die Diagonalen unterteilen das Quadrat in identische Dreiecke, es passt perfekt in einen Kreis oder kann einen Kreis perfekt in seinem Innern aufnehmen.
Der Kreis wiederum steht für die Unendlichkeit genauso wie das Erdenrund aber auch für den Mond die Sonne, und damit alle Planeten, auch wenn wir heute wissen, dass die Erde im Norden und Süden abgeplättet ist. Die Biegung des Kreises ist an jeder Stelle gleich. Die Kombination von Quadrat und Kreis kann also als multikulturelle Chiffre für die Welt gelesen werden.
Dass diese Formen schon lange von Menschen als Gestaltungselemente und damit auch als Gleichnisse und Botschaften genutzt wurden, zeigen jungsteinzeitliche Kreismonumente wie Stonehenge oder auch die quadratischen Grundrisse ägyptischer und auch anderer Pyramiden.
Auch Leonardo da Vinci nutzte die Kombination von Quadrat und Kreis in seiner Zeichnung zur menschlichen Anatomie, die wohl bis heute seine bekannteste ist.
Zu Malewitschs bekanntesten Arbeiten gehört sein Schwarzes Quadrat auf weißem Grund von 1915. Für die Oper „Sieg über die Sonne“ zeichnete er 1913 für Bühnenbilder und Kostüme verantwortlich. Hier war auf einem Bühnenvorhang auch das erste schwarze Quadrat zu sehen. Eine Skizze zum 5. Bild der Oper zeigt zwei ineinander liegende Quadrate mit ihren teils im Hintergrund und teils im Vordergrund liegenden Diagonalen, aus denen sich ein schwarzes Dreieck ergibt.
Die dreidimensionale Entsprechung von Kreis und Quadrat sind Kugel und Würfel. In Jochen Damian Fischers Werk spielen vor allem Quadrate, Kreise und Würfel eine zentrale Rolle. Seine plastischen Arbeiten haben mitunter quadratische oder kreisrunde Grundflächen, die Durchmesser seiner runden, röhrenartigen Durchgänge, Durchbrüche oder Kamine sind kreisförmig.
Für „Höhle“ (2010) realisierte er die Kombination aus Kreis und Quadrat, indem er die drei schwarzen Quadrate auf die Wand eines unterirdischen Kanals malte, der einen kreisförmigen Durchmesser aufweist. Auch in JDFs Fotoarbeiten spielen Röhren mit kreisrundem Durchmesser immer wieder eine exponierte Rolle.
Im Keller des ehemaligen Polizeireviers Stuttgart Süd gestaltete JDF 2013 die dortige frühere Gefängniszelle um. Mit 2,40 m x 2,40 m ist die Grundfläche der „Zelle“ quadratisch. Im „Zugangsbereich“ ist sie aufgeschnitten, so dass man hineingehen und auf der Umrandung Platz nehmen kann. In der Mitte ist ein runder Gullideckel in den Boden eingelassen. Sowohl der Gullideckel als auch bodennahe Öffnungen der Umrandung sind mit einer Beleuchtung ausgestattet.
Der „Kanalwürfel“ (2015) ist ein Betonwürfel mit einer Seitenlänge von 60 cm, auf dessen Oberseite ein Kanaldeckel eingearbeitet ist. Dadurch rückt der Kanaldeckel in den Mittelpunkt der Betrachtung. JDF präsentiert ihn möglichst inmitten einer Betonumrahmung in der Optik von Sitzflächen.
„Carré“ (2018) basiert auf einem quadratischen Grundriss. Es ist ein Betonquadrat mit quadratischem Innenraum. Man könnte sich dort in die Sonne setzen, die Beine in den Innenraum baumeln lassen und sich unterhalten. Ein Viertel des Quadrats ist allerdings nach außen gerückt, um genau das Maß der Umrandung. So wird ein neues Quadrat sichtbar, das auch einen würfelförmigen Raum schafft, wo es sich nach außen geschoben hat. An der Öffnung der größeren, „ursprünglichen“ Struktur hat Fisher eine Treppe gesetzt, die zum Begehen des Innenraums des „Carré“ einlädt. In ihren Abmessungen entspricht die Treppe einem diagonal geteilten Würfel, die Stufen sind so hoch wie breit und entsprechen damit dem stringenten geometrischen Prinzip der Konstruktion.
„Schächte“ (2019) besteht ausschließlich aus Würfel-Relationen. Die vier äußeren Schächte haben einen quadratischen Grundriss, ihre Höhe entsprich der doppelten Seitenlänge, sie sind mit einem würfelförmigen Verbindungsstück an den zentralen Würfel angeflanscht. Die Konstruktion sieht aus, als könne man die äußeren Schächte in den zentralen Würfel hineinschieben. Ihre Seitenlänge entspricht einer halben Seitenlänge des zentralen Würfels, der sie somit alle vier in sich aufnehmen könnte.
„Tunnel“ (2021) ist ein geometrisch komplexes Werk mit einem kreisrunden Grundriss, vier kreisrunden Zugangsröhren, die zu Treppen führen, welche im Innern der Struktur in einem Quadrat zusammenlaufen. Die Treppen bilden damit die Struktur eines gleichmäßigen Kreuzes und eröffnen so einen multiplen Interpretationsspielraum. Durch Ihre Gleichmäßigkeit definieren sich die Blöcke zwischen den Treppen als vom Rund der Außenwandung abgeschnittene Kreissegmente, Käse-Ecken oder Tortenstücken vergleichbar, die aber infolge ihrer Kantenlänge durchaus auch als abgeschnittene Würfel interpretiert werden können. Die runden Zugangsröhren liegen symmetrisch im 90-Grad-Winkel zueinander und könnten somit für die vier Himmelsrichtungen stehen.
JDFs klare, immer wieder auf Kreis, Quadrat und Würfel zurückführbare Kompositionen können formal als Spiel mit der Vollkommenheit gedeutet werden. Als solches sind sie emotionslos und in sich selbst vollkommen rational.
Ihre materielle Beschaffenheit und weitgehende optische Ähnlichkeit zu funktionalen Hervorbringungen des Bauwesens, die wir oft als Zweckarchitektur benutzen, aber weder uns wirklich bewusst machen noch würdigen, erzeugt eine berührende Mischung aus Vertrautheit und Befremden. Die Vertrautheit herrscht hinsichtlich der Formen, mit denen wir Funktionalität verbinden. Das Befremden setzt ein in dem Moment, in dem wir erkennen, dass die sich uns präsentierende Form die ihr von unserem Erfahrungshorizont zugeschriebene Funktion gar nicht erfüllt und offenkundig auch nicht erfüllen soll. Sie liefert keine Antworten, die über die formale Vollkommenheit aus Kreis, Quadrat und Würfel hinausgeht, sie eröffnet aber unendlichen Raum für Interpretation, Assoziation und Emotion.

NP 2021-10-27 I NP 2022-07-18 I NP 2022-07-22


  1. Staatliche Akademie der Bildenden Künste Stuttgart (Hrsg.): Meisterschülerinnen und Meisterschüler des Weissenhofprogramms der ABK Stuttgart, Band IV, 2020
  2. https://www.historische-felsengaenge.de/, abgerufen am 25.10.2021
  3. https://de.wikipedia.org/wiki/Romantik, abgerufen am 25.10.2021
  4. Vgl. z.B. Edgar Allan Poe Complete Tales and Poems, Castle Books; 2003. Edition, 2009
  5. Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Karl_Mays_Kolportageromane, abgerufen am 25.10.2021
  6. Vgl. Glück, La Speranza, Ryborz: „Unter Wien – Auf den Spuren des Dritten Mannes, durch Kanäle, Grüfte und Kasematten“, Ch.Links, Berlin, 2001
  7. Joachimides, Rosenthal, Schmied, „Deutsche Kunst im 20. Jahrhundert – Malerei und Plastik“, Prestel Verlag, München, 1986
  8. Conroy Maddox: „Dalí“, Taschen Comics Verlag GmbH & Co. KG, Köln, 1985
  9. Harry Torczyner: „Magritte – Ideas and Images“, Harry N.Abrams, Inc. New York, 1979
  10. Bruno Ernst: „Der Zauberspeigel des M.C. Escher“, TACO Verlagsgesellschaft und Agentur mbH, Berlin, 1986
  11. „Happening & Fluxus“, Katalog zur Ausstellung im koelnischen Kunstverein ,Köln, 1971
  12. Albrecht/d. „the way of a . eine Selbstdokumentation von 44 – jetzt“,reflection press, Stuttgart, 1970
  13. ebd.
  14. „Albrecht/d. – Zum Berühmtsein eigentlich keine Zeit“, Oberwelt e.V., edition randgruppe, Stuttgart, 2017
  15. Siehe „Christo „Happening & Fluxus“, Katalog zur Ausstellung im koelnischen Kunstverein ,Köln, 1971 und Wolfgang Volz: „Christo and Jeanne-Claude“, Taschen GmbH, Köln, 2020
  16. Chronik der Stadt Stuttgart 1933-1945, Klett-Cotta, Stuttgart, 1982
  17. „Hochbunker Pragsattel“, Schutzbauten Stuttgart e.V., 2008